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20. Wieder zusammengesetzt
Buch

An diesem Abend zog erneut ein Sturm von Port her den Fluss herauf. Er heulte über das Wasser, riss Schindeln von den Dächern und versetzte alle in eine gereizte und nervöse Stimmung.

Septimus hatte Hausarrest und begann im Zaubererturm unter den wachsamen Augen Marcia Overstrands mit den komplizierten Vorbereitungen für seine erste Projektion, die ein wichtiger Meilenstein in der Ausbildung jedes Lehrlings war. Bei der ersten Projektion war es Brauch, dass der Lehrling einen kleinen Gegenstand aus dem Alltag auswählte und dann versuchte, irgendwo in den Gemeinschaftsräumen des Turms ein naturgetreues Bild dieses Gegenstands zu projizieren, das so überzeugend wirkte, dass es für echt gehalten wurde. Jede Projektion war ein spiegelverkehrtes Bild des Originals, doch solange der Lehrling keinen Gegenstand wählte, der mit Schriftzeichen versehen war, fiel das normalerweise nicht ins Gewicht. So konnte es vorkommen, dass ein scheinbar harmloser »Besen« in einer dunklen Ecke lehnte, ein »Figürchen« auf einem unerreichbar hohen Fenstersims thronte oder plötzlich ein neuer »Mantel« im Schrank hing. Während der ersten Projektion war im Turm stets eine gewisse Aufregung zu spüren. Die Zauberer, die geflissentlich so taten, als wären sie mit ganz anderen Dingen beschäftigt, streiften umher, stupsten alle möglichen verdächtigen Gegenstände an und schlossen Wetten darüber ab, was der Lehrling wohl projizieren würde.

Nun, da Septimus im Projektionsraum eingesperrt war, ging Marcia daran, die letzten Spuren von Feuerspei im Hof zu beseitigen – genauer gesagt, sie betraute Catchpole mit dieser Aufgabe. Doch noch am selben Abend schloss sich Catchpole im Schrank für alte Zauber ein und wollte nicht mehr herauskommen. Verärgert ließ Marcia der Unterzauberin Hildegard, die im Palast den Türdienst versah, ausrichten, sie solle auf der Stelle in den Zaubererturm kommen.

Hildegard träumte schon so lange davon, in den Zaubererturm gerufen zu werden, dass sie über die Nachricht außer sich vor Freude war. Sie rannte den ganzen Weg und kam zerzaust und keuchend im Turm an. Doch statt des erhofften Postens als Gewöhnliche Zauberin bekam sie nur einen großen Besen und einen noch größeren Eimer. Energisch wie immer, krempelte sie die Ärmel hoch und machte sich an die Arbeit. Jeder Auftrag im Zaubererturm, so sagte sie sich, brachte sie ihrem Traum einen Schritt näher. Am nächsten Morgen war Hildegard Terry Tarsais erste Kundin. Sie kaufte sich ein Paar derbe, wasserfeste Stiefel.

Kaum hatte die scharfäugige Hildegard ihren Posten im Palast verlassen, wurde Merrin kecker. Er schlich nicht mehr durch die Korridore, sondern durchschritt sie mit großspurigem Gang. Zweimal wäre er beinahe mit Jenna zusammengestoßen, die unerwartet um eine Ecke bog. Beim zweiten Mal war er versucht, an ihr vorbeizugehen, nur um festzustellen, ob sie ihn überhaupt bemerkte, doch im letzten Augenblick besann er sich anders und versteckte sich hinter einem Vorhang.

Jenna hätte ihn möglicherweise tatsächlich nicht bemerkt, wenn er an ihr vorübergegangen wäre. Sie war in Gedanken zu sehr mit Nicko und der Karte beschäftigt. Mindestens zweimal am Tag schaute sie im Manuskriptorium vorbei, um mit Beetle zu sprechen. Er freute sich über ihre Besuche, doch jedes Mal, wenn das Ping der Tür ertönte – oder vielmehr dieses besondere Pi-ing, das die Tür, wie er fest glaubte, nur machte, wenn Jenna sie aufstieß –, musste er seinen Mut zusammennehmen und ihr sagen, dass er nichts Neues von Ephaniah Grebe gehört hatte. Am dritten Tag, an dem Jenna vorbeischaute, hatte er endlich Neuigkeiten, nur leider keine guten.

Es war später Nachmittag, und dunkle Wolken ließen es noch später erscheinen. Beetle hatte gerade eine Kerze entzündet und auf seinen Schreibtisch gestellt und bereitete sich auf seinen letzten Inspektionsgang an diesem Tag, den Schließgang, vor, als es Pi-ing machte, die Tür aufflog und Jenna hereinschneite. Sie drückte die Tür wieder zu, strich sich das zerzauste Haar aus den Augen, rückte ihr goldenes Diadem zurecht und fragte mit bangem Blick: »Irgendwas Neues?«

Vor diesem Moment hatte Beetle gegraut. »Äh ... ja ... aber nichts Erfreuliches, fürchte ich. Heute Morgen lag diese Nachricht auf meinem Schreibtisch.«

Er reichte Jenna ein großes weißes Blatt Papier. Darauf stand: Betrifft: alte Papierfragmente. Wichtiges Stück fehlt. Bitte um weitere Anweisungen.

»Das war wohl zu erwarten«, seufzte Beetle.

»Aber wir haben doch alles abgesucht«, widersprach Jenna. »Und als ich zurückkam, habe ich noch mal nachgesehen. Und sicherheitshalber am nächsten Tag noch einmal. Das kann doch nicht...« Ihre Stimme verlor sich. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass es ein Wunder gewesen wäre, wenn nichts gefehlt hätte.

»Ich wollte Sep fragen, was wir tun sollen«, sagte Beetle, »aber sie lassen mich nicht zu ihm. Sie nehmen nicht einmal eine Nachricht für ihn entgegen. Er darf nicht gestört werden, heißt es. Marcia hält ihn da oben wie einen Gefangenen. Ich bin mir sicher, er könnte das fehlende Stück finden. Dafür gibt es bestimmt irgendeinen Zauber oder so was.«

»Wir könnten Ephaniah fragen«, schlug Jenna vor. »Vielleicht kennt er einen Zauber. Oder wir bitten einen Gewöhnlichen Zauberer um Hilfe.«

In Beetles Augen war das ein riskantes Unterfangen, aber ihm fiel auch nichts Besseres ein. »Einverstanden«, sagte er.

Das Manuskriptorium war leer. Die Schreiber waren alle bereits nach Hause gegangen. Sie hatten heute früher gehen dürfen, bevor der Sturm bei Einbruch der Dunkelheit noch stärker wurde. Selbst Jillie Djinn hatte sich nach oben in die Räumlichkeiten der Obergeheimschreiberin zurückgezogen. Der Wind rüttelte an der Tür zur Schreibstube, und Jenna bekam eine Gänsehaut, als sie mit Beetle durch die Reihen der Pulte schlich, die sie wie Knochengerippe überragten. Oben auf der Kellertreppe stand ein Korb mit den heutigen Aufträgen – ein paar Zauber, die nachgestellt werden mussten, und eine alte Gelehrtenschrift, die einen neuen Einband brauchte. Beetle ergriff den Korb und nahm ihn mit.

Sie öffneten die mit grünem Stoff bezogene Tür und machten sich auf den Weg durch die Kellerräume, in denen es im Gegensatz zum schummrigen Manuskriptorium beinahe blendend hell war. Wieder begegneten sie keinem Menschen, doch diesmal gingen sie zügig bis zum letzten Raum durch. Dort fanden sie Ephaniah Grebe mit einer großen Lupe über den Tisch gebeugt, auf dem Hunderte kleiner Papierschnitzel ausgebreitet lagen wie ein riesiges, kniffliges Puzzle.

»Ich bringe Ihnen den Korb«, sagte Beetle und stellte ihn auf den Boden.

Ephaniah zuckte zusammen und drehte sich um. Jenna machte sich auf den Anblick des Rattengesichts gefasst, doch diesmal hatte sich Ephaniah mit den Tüchern verhüllt, und so sah sie nur seine grünen Augen, die hinter den dicken Brillengläsern riesig erschienen. Der Konservator gab zur Begrüßung ein leises Quieken von sich und winkte sie zu sich. Er reichte ihnen ein Stück Papier. Darauf stand geschrieben: Es ist mir gelungen, alle Papiere wieder zusammenzusetzen bis auf eines.

Ephaniah deutete mit der Hand auf einen sauberen Stapel Blätter in einem Regal hinter ihm.

»Sieh dir das an«, sagte Beetle, um Jenna aufzumuntern. »Alle wieder zusammengesetzt. Nur eines fehlt – nicht übel, was? Ich wette, auf dem fehlenden Blatt waren nur irgendwelche Kritzel-Zeichnungen von Booten. Davon gab es jede Menge. Aller Wahrscheinlichkeit nach war es nichts Wichtiges, nur Krakeleien.«

Jenna wollte gerade einwenden, dass ihr alle Krakeleien Nickos wichtig seien, da legte Ephaniah ein weiteres Stück Papier vor sie hin: Ich habe alle Papiere gestärkt, aber damit sie in Zukunft sicher aufbewahrt werden können, würde ich sie gerne binden. Habe ich Ihr Einverständnis ?

Jenna nickte.

Ephaniahs Augen lächelten – eine solche Arbeit liebte er. Aus einer Schublade im Tisch zog er zwei dicke Pappdeckel, die mit Leinen in Jillie Djinns Rosarot, der neuen Erkennungsfarbe des Manuskriptoriums, bezogen waren. Dann nahm er eine Ringösenzange zur Hand, zwickte am linken Rand jedes Kartons jeweils fünf Löcher, holte die wieder zusammengesetzten Papiere aus dem Regal, klemmte sie dazwischen und schnürte die beiden Deckel mit einem langen blauen Band so geschickt zusammen, dass Nickos Notizen und Zeichnungen nun sicher zwischen dickem rosarotem Karton gebunden waren. Als nächstes band er mit einem weiterem Stück Band die Ecken zusammen, und mit einer letzten schwungvollen Gebärde brachte er einen großen Stempel zum Vorschein und drückte ihn auf das Leinen. Als er den Stempel wieder hob, prangte auf dem Rot in goldenen Lettern KONSERVIERT, GEBUNDEN UND GEPRÜFT VON EPHANIAH GREBE.

Der weiße Stoff vor seinem Gesicht kräuselte sich, als ob die Rattenschnurrhaare darunter von einem Lächeln zuckten, und stolz überreichte er Jenna die schön gebundenen Papiere Nickos. »Oh ... danke«, stieß sie hervor. Endlich hielt sie Nickos Aufzeichnungen wieder in ihren Händen. Ein Stein fiel ihr vom Herzen. Nun würde alles gut werden. Sie würde zu Septimus gehen und mit ihm zusammen die Karte studieren, und sowie sie herausgefunden hatten, wie man zum Foryxhaus gelangte, würden sie sich auf den Weg machen und Nicko zurückholen. In Gedanken weit vorauseilend, ertappte sie sich bei der Frage, ob sie Jillie Djinn eventuell dazu überreden könnte, Beetle eine Weile freizugeben – es wäre schön, wenn auch Beetle mitkommen könnte. Gerade als sie sich zurechtlegte, was sie zu Miss Djinn sagen würde, falls sie Beetle nicht gehen lassen wollte, wurde sie von Beetles Stimme aus ihren Überlegungen gerissen.

»Hast du schon festgestellt, was fehlt?«, fragte er nervös.

»Wie was fehlt?« Jenna landete hart auf dem Boden der Tatsachen.

»Na ja, das Blatt, das nicht wieder zusammengesetzt worden ist. Welches ist es?«

»Ach so.« Jenna schlug Ephaniahs schön gebundenes Buch auf und begann, darin zu blättern. Das Papier war jetzt sauber und geschmeidig, die Schrift deutlich und nicht mehr verschmiert oder verblasst. Der Konservator hatte erstklassige Arbeit geleistet.

Jenna entdeckte vieles, was sie noch nicht gesehen hatte – Listen für Proviant und Kleidung, einen Reisegenehmigungsantrag für zwei Personen, jede Menge Aufgabenlisten und mehrere Listen mit den allerdringlichsten Aufgaben. Daneben gab es Dinge, an die sie sich noch aus Marcellus Pyes Dachkammer erinnerte – die Kritzelzeichnungen von Booten und Seemannsknoten, die Einkaufsliste für den Wintermarkt, die Spiele, die Nicko und Snorri gespielt hatten. Alles war da bis auf eines – die Karte.

Jenna blickte verzweifelt zu den Papierschnitzeln auf dem Tisch. Tränen traten ihr in die Augen, als sie begriff, dass der Wegweiser zu Nicko in tausend Fetzen vor ihnen lag, zusammen mit einer Notiz in Ephaniahs sauberer Handschrift: Unvollständig.

Ephaniah hatte ihre Bestürzung bemerkt und schrieb hastig: Noch ist nicht alles verloren. Vielleicht lässt sich das fehlende Teil mit einem Suchzauber finden. Fragt AGZ.

»Wer ist AGZ?«, fragte Jenna.

Ephaniah griff wieder zu seinem Stift, aber Beetle war schneller: »Die Außergewöhnliche Zauberin. Das ist die Abkürzung, die wir hier verwenden. Wie OGS für Obergeheimschreiberin oder PGUEA – das bin ich. Nur benützt sie niemand, weil Beetle schneller gesagt ist.«

»PGUEA?«, fragte Jenna.

»Prüfgehilfe und Empfangsangestellter.«

»Aha«, sagte Jenna. »Also, PGUEA, würdest du mich bitte zu Marcia begleiten? Auf uns beide hört sie vielleicht eher.« Und an Ephaniah gewandt: »Vielen Dank, Mr. Grebe. Danke, dass Sie mir Nickos Sachen zurückgegeben haben.« Sie drückte das schön gebundene Buch an sich.

Ephaniah nickte und zog eine säuberlich beschriebene Karte hervor, die er Jenna mit überschwänglicher Geste reichte: Ihre Besuche haben mir große Freude bereitet, Prinzessin. Es wäre mir eine Ehre, Sie wiederzusehen, und ich hoffe, ich kann Ihnen wieder einmal einen Dienst erweisen.

Jenna lächelte. »Vielen Dank, Mr. Grebe. Ich werde sehr bald mit der AGZ wiederkommen, dann können Sie das letzte Stück wieder zusammensetzen«, sagte sie, und ihre Stimme klang zuversichtlicher, als sie sich fühlte.

Septimus Heap 04 - Queste
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